Grußwort von Valeska Riedel
Es ist mir eine große Freude, Sie und Euch hier heute, auch im Namen des DGSF Vorstandes begrüßen zu dürfen. Begeistert war ich, als ich die Ausschreibung für diesen Regionentag las. Einen besseren Ort, einen besseren Zeitpunkt hätte es kaum geben können in einem Jahr, das so viele historische Gedenktage rundet. Die Pariser Friedenskonferenz mit der Unterzeichnung des Versailler Vertrages vor 100 Jahren, große Unruhen, Aufstände und Attentate in Deutschland – Politiker wurden ermordet, bei demokratischen Wahlen konnten Frauen erstmals von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen, der Beginn des zweiten Weltkrieges vor 80 Jahren - vor 50 Jahren der erste Mensch auf dem Mond, vor 30 Jahren der Mauerfall – für Zeitgenossen damals fast erstaunlicher als die Mondlandung.
Doch können wir uns einen ausführlichen Blick in die Vergangenheit leisten, wenn man die gesellschaftliche und politische Entwicklung im Land zur Kenntnis nimmt? Friedrich Nietzsche sagte, der Blick zurück schaffe Kultur. Das finde ich bemerkenswert und ergänze respektvoll: der Blick zurück schafft Identität, wie wir wurden, wer wir sind. Identität bringt Verantwortung für die Zukunft mit sich.
„Ja, das bin ich und jenes sicher nicht und das ist mein Einsatz für meine Werte, für meine Kultur“, – das sagen zu können, erfordert den Blick zurück und nach vorn. Im Bewusstsein der eigenen Geschichte zu sein ermöglicht, Entscheidungen zu treffen aus einer Identität heraus, die Vergangenes erkennt ohne Leugnung oder Verdrängung. Soweit die Theorie, denn da zumindest erscheint es doch ganz plausibel. Nur – wie stellen wir Systemiker und Systemikerinnen uns nun der Praxis des zu lebenden Lebens? Angesichts politischer Strömungen, die durchaus Ängste befördern?
Wir haben einen gemeinsamen Tag vor uns, an dem wir uns Themen der deutschen Vergangenheit stellen, an dem wir unsere Gegenwart in den Kontext der persönlichen und historischen Geschichte setzen und an dem wir uns in einen Diskurs begeben, der in die Zukunft ausgerichtet sein muss. In dem Wissen, dass die Gegenwart die Zukunft gestaltet.
„Geschichte wird gemacht“, der Titel dieses DGSF Regionentages machte mich sehr nachdenklich, als ihn zum ersten Mal las. Er klingt für mich nach Gestaltung, nach Herstellung gewissermaßen und schließlich nach Übernahme von Verantwortung. Ich hörte auch „Macht“ in „gemacht“.
Geschichte wird gemacht – von wem? Das lässt der Titel offen – es ist kein handelndes Subjekt genannt. Von uns? Von mir etwa? Von den anderen? Vom Schicksal oder dem berühmten Schmetterlings-Flügelschlag? Wer sind die Macher von Geschichte? Und wo bitte, findet das dann statt? Der Titel des heutigen Tages bewegte mich, ja, er provozierte mich. Als Tochter eines Philosophen, der, um frei denken zu können, die DDR 1957 verließ, gestehe ich, Politik gegenüber ein gewisses Desinteresse zu empfinden. Ich suchte meine Antworten immer schon in der Literatur, der Philosophie und Theologie, der Psychologie, in Soziologie und Systemtheorie und nicht zuletzt in der Natur, – aber in der Politik? Ganz sicher nicht. Nun denke ich immer häufiger, dass ich mir diese Haltung nicht mehr wirklich leisten kann.
Wie kann ich mir als Familientherapeutin meine konstruktneutrale, wertschätzende und an Ressourcen orientierte Haltung noch glaubwürdig bewahren, angesichts der politischen Entwicklung im Land? Angesichts mir frustrierend endlos erscheinender sozialer Ungerechtigkeiten, langlebiger deutsch-deutscher Mauern in einigen Köpfen, die gesellschaftliche und politische Verantwortung immer noch in Ost und West einteilen. Auch angesichts des grotesken Raubbaus an der Natur, unserer Welt?
Ich glaube durchaus daran, dass das gelingen kann – nur brauche ich dazu andere Menschen, ich brauche Gespräche, verschiedene Sichtweisen, Argumente. So bringe ich ganz offensichtlich mehr Fragen als Antworten mit und erhoffe mir Impulse zur Weiterentwicklung meiner Haltung. Denn wenn meine Haltung klar ist, weiß ich besser was zu tun und was zu lassen ist. Das und mehr löste die Ausschreibung des heutigen Tages in mir aus und ich freue mich sehr auf die angekündigten Vorträge, die Begegnungen in workshops und in den menschlichen Zwischenräumen.
Luc Ciompi schreibt in seinem Buch „Gefühle machen Geschichte“, dass Geschichte sich nicht wiederholt – es gäbe aber Analogien. Hier sehe ich die Verantwortung und ich möchte es gerne an dieser Stelle ganz konkret und persönlich werden lassen. Hier sehe ich meine Verantwortung: im Erkennen von Analogien, ohne mich dabei von Angst und Befürchtung leiten zu lassen. Stattdessen meine Werte zu vertreten, Ungerechtigkeiten zu benennen und ins Gespräch und damit ins Bewusstsein zu bringen. Handlungen und Unterlassungen ableiten, möglichst wirksam und vor allem gewaltfrei.
Denn ich wünsche mir und uns gewaltfreie Lösungen, einen Ausstieg aus Teufelskreisen von Scham und Gegenbeschämung, von Rückzug und Angriff. Ich glaube daran, dass es das geben kann und erinnere mich einmal mehr an das Jahr 1989. Ein Jahr in dem mit einer an Wunder grenzenden Gewaltlosigkeit (mit Ausnahmen leider, wir erinnern uns an den blutigen Umsturz in Rumänien), damals unvorstellbare Veränderungen in Osteuropa und in Deutschland möglich wurden.
Ich war 23 Jahre alt als die friedliche Revolution in der DDR geschah. Geschichte wird gemacht.
„Es vergisst sich nicht mehr“,
sagte mein Vater im Winter 1989, kurz nach der Öffnung der Grenze. Er zitierte Immanuel Kant, der das über die Französische Revolution gesagt hatte. Ein Ereignis, das sich nicht mehr vergisst, unumkehrbar das Alte entlässt, sich der Ungewissheit des Neuen stellt, das keiner kennt und jeder will und gleichzeitig fürchtet. Es war ein bisschen als sei man aus der Zeit gefallen. Ich erinnere mich. Sie blieb fast stehen, die Zeit, ganz so wie es mein Atem tat, angesichts der friedlichen Revolution in der DDR. Gleichzeitig überschlugen sich die Ereignisse als wolle die Zeit sich selber überholen, die gewohnte Ordnung vom Lauf der Sekunden, Minuten und Stunden aufheben. Es sei ein epochales Ereignis, so deutete mein Vater das, was ich als Ereignis noch nicht mal recht erfassen konnte. Mit 23 Jahren Lebenserfahrung in einem geteilten Deutschland, mit einer Friedenstaube auf meiner Gitarre als kleine, trotzige Aufkleber - Antwort auf den Kalten Krieg, war das schwer zu begreifen, so unwirklich erschien mir alles was geschah. So sehr hatte ich die Ordnung des Eisernen Vorhangs gehasst und verinnerlicht, als Wirklichkeit hingenommen und mich darin eingerichtet. Es dauerte immer 6 Wochen, um ein neues Visum für die Einreise in die DDR zu bekommen. Der Grenzübergang Hirschberg war mir verhasst und vertraut. Stundenlange Wartezeiten, Durchsuchungen und auch Verhöre waren der Preis, um meine Familie zu sehen. Surreale Wirklichkeit, in Stein gemeißelt, von Stacheldraht gezäunt – nur den Vögeln war die bedrohliche Szenerie egal. Der Westen war mir keine Heimat, denn er leugnete den Osten und projizierte dorthin unverarbeitete Kriegsängste – so kam es mir vor. Der Osten war mir keine Heimat, denn er lehnte den Westen ebenso kategorisch ab und verherrlichte ihn mitunter – so kam es mir vor. So lebte ich in einer Zwischenwelt in einer Zwischenzeit, die so tat, als sei der Krieg schon lange vorbei. Als sei die Mauer eine Normalität, etwas Logisches, mit dem zu leben ist, ähnlich wie mit den Jahreszeiten.
Ich fand den Spruch „geteiltes Leid ist halbes Leid“ schon immer irgendwie verdächtig.
„Wahnsinn!“,
das in diesen Tagen 1989 vielleicht am meisten gesprochene Wort, dem es übrigens recht egal war, ob es aus einem ost- oder westdeutschen Mund kam. Fremde Menschen fielen sich in die Arme, ein atemberaubender Taumel, der wie Verbandsmull schützte, was darunter lag. Ein epochales Ereignis, ja. In dieser Gegenwart vor 30 Jahren hielten sich Hoffnung auf die Zukunft und Furcht vor dem Unbekannten die Hände und kamen auf uns zu. Geschichte wird gemacht. Beschämendes Unrecht, Missbrauch von Fördermitteln und Wirtschaftskriminalität wurden „gemacht“ in der Zeit nach dem Taumel (dass es „geschah“ bekomme ich in diesem Zusammenhang nicht über die Lippen). Diese dunklen Räume sozialer Marktwirtschaft gehören auch zur Geschichte.
Ich kann bis heute die vielen Menschen jener Jahrzehnte nicht vergessen, die an dieser Grenze gelitten haben oder auch starben, oft im Verborgenen. Eingesperrt, bedroht, isoliert und gedemütigt. Es vergisst sich nicht mehr. Es bleibt im Gedächtnis, ist unvergleichlich und zeitlos. Wenn ich heute lese, was mein Vater 1991 in seinem Buch „Zeitkehre in Deutschland“ geschrieben hat, versetzt es mich zurück in diesen wunderbaren Wahnsinn des Jahres 1989.
„das Leben im Augenblick, der nicht im Jetzt vergeht, sondern als einer im Übergang erscheint; der sich dehnen kann, ja dehnen muss, weil er Zeit braucht, um geschichtlich zu geschehen.“ (Manfred Riedel, Zeitkehre in Deutschland, 1991)
Drei Jahrzehnte sind nun vergangen, im wiederkehrenden immer neuen Abschied vom Alten, das immerhin geordnet war mit klarer Form und klarer Grenze. Ein Abschied, der mir damals nicht schnell genug gehen konnte und dann doch viel zu schnell ging. Ein Abschied, der mir manchmal bis heute noch nicht genommen zu sein scheint, immer noch zu Recht geschützt von Verbandsmull, nur mit weniger Taumel und der sich immer wieder einfordert, was er braucht. Mut, Dankbarkeit, Erkennen und Anerkennen von Schuld und Ungerechtigkeit, Innehalten und Weitergehen in vielen vergangenen, heutigen und kommenden Gegenwarten. Geschichte wird gemacht, um geschehen zu können.
Bertolt Brecht schrieb 1949 in seinem Epigramm „Wahrnehmung“
die Mühen der Gebirge liegen hinter uns
vor uns liegen die Mühen der Ebenen.
So scheint es mir. Die umwälzenden Ereignisse vor 30 Jahren, gewaltfrei und erstaunlich, waren der Durchbruch. Unsere Gegenwart ist die Bewährungsprobe, die uns auffordert zu erinnern und zu gestalten. Ich freue mich auf diesen Tag, wünsche uns allen Impulse und Ideen, in dem Anerkennen, dass Geschichte von Menschen, von uns gemacht wird, um geschehen zu können. Vielen Dank!
Valeska Riedel im August 2019