Offener Brief an Marie Luise Conen
Jochen Schweitzer, Heidelberg, 17. Juni 2016
Offener Brief an Marie Luise Conen
in Reaktion auf ihren Vortrag beim DGSF Jugendhilfetag 2016
Liebe Marie-Luise,
danke für die Zusendung Deines Vortrages auf dem DGSF- Jugendhilfetag 2016 in Köln, den ich nicht selbst gehört, sondern erst später gelesen habe. Du plädierst für eine kritische Diskussion, dazu will ich gerne beitragen. Um mein Diskussionsergebnis vorwegzunehmen: ich halte sowohl Deine Polemik wie auch Dein darin impliziertes Politikverständnis für bestenfalls nutzlos. Die Polemik halte ich für schädlich – für das Erreichen jener politischen Veränderungen, die Du anmahnst.
Alles Gesagte wird von einem Beobachter gesagt.
Ich will vorausschicken: Wir kennen uns seit langem, waren 1997 bis 2000 gemeinsam Vorstandsmitglieder der DAF und beide wesentlich an deren Fusionsprozess mit dem DFS zur DGSF beteiligt. Seither haben wir mit Interesse unser beider Agieren in der DGSF wechselseitig beobachtet und kommentiert. Ich schätze Dein waches Beobachten und pointiertes Kommentieren fachlicher und politscher Veränderungsprozesse. Manchem davon konnte ich als früherer DGSF Vorsitzender nützliche Anregungen entnehmen. Heute fühle ich mich nur noch für einen Teilbereich der DGSF (die Gesellschaftspolitik) mitverantwortlich, erlebe mich aber mit der Entwicklung des Verbandes weiterhin sehr identifiziert. Daher erlaube ich mir, diesen offenen Brief an Dich zu schreiben. Ich finde gut, dass Dein Vortrag über weite Strecken hinweg Tendenzen und nicht einzelne Personen kritisiert. Auch ich kritisiere im Folgenden nicht Dich als Person, sondern Deine Rhetorik und deine (verbands-)politische Praxis.
Machteliten in der DGSF? Na klar! Wie denn sonst?
Mehrfach erwähnst du die „Machteliten“ in der DGSF. Du kritisierst, dass diese „Wissen als Macht“ monopolisieren und nicht weitergeben, dass sie „kritische Überlegungen tabuisieren“, dass sie gar nach einem einzelnen kritischen Kommentar von Dir eine ganze Arbeitsgruppe quasi-zerschlagen, „kein zweites Machtzentrum zulassen“, eine von der Vorstandsebene abweichende eigene Meinung übergehen oder verleugnen.
Ich vermute, Du meinst mit Machteliten die von der Mitgliedschaft gewählten Gremien der DGSF und die von Ihnen bestimmten Sprecher und Referenten. Du bist selbst lange Zeit, von 1993 bis 2000, zentrales Mitglied (Vorsitzende) der Machtelite der früheren DAF gewesen und warst eine einflussreiche Mitkonstrukteurin der neugegründeten DGSF. – Seither nehmen deine Redebeiträge bei DGSF-Veranstaltungen großen Raum ein, zuletzt auf dem Kölner Fachtag "Systemische Praxis in der Kinder- und Jugendhilfe" und der Mitgliederversammlung in Magdeburg. Offenbar werden zumindest Deine kritischen Überlegungen nicht tabuisiert.
Na klar gibt es Machteliten in der DGSF. Offenbar arbeiten sie seit Gründung der DGSF gut. Unserem alten DAF-Vorstand gelang es Ende der 1990er nur sehr mühsam eine Mitgliederzahl von 600 aufrechtzuerhalten, politische Wirksamkeit nach außen war damit nicht möglich. Die DGSF hat heute über 6000 Mitglieder, eine reiche interne Differenzierung und eine für einen Verband recht lebendige Verbandskultur. Und diese Mitglieder werden (über Neujahrsbrief, Mailingliste, DGSF-Intern, Homepage, auf Mitgliedertagen) umfassend informiert. Offensichtlich arbeiten die Machteliten heute gut für den Verband, besser als damals.
Alles für die Kassenanerkennung – nix für die Jugendhilfe? Stimmt nicht.
Angeblich wird nach Deiner Meinung „dem Ziel der Kassenanerkennung ALLES in beiden Verbänden (DGSF und SG) untergeordnet“. Das ist Unsinn. Die DGSF hat in den letzten 10 Jahren viele andere Schwerpunkte gesetzt. Ich nenne nur beispielhaft die zwei Jugendhilfetage, die Familien- und Gesellschaftspolitik , die vielen nicht-psychotherapeutischen Fachgruppen von „Armut und System“ über „Humane Arbeit“ und „Seelsorge“ bis „ältere Menschen“; die Presseerklärungen von den Systemaufstellungen über Roland Kochs „Bootcamps für Jugendliche“ über die „Supernanny“ bis zuletzt zur Flüchtlingspolitik; die der Organisationsberatung gewidmete Friedrichshafener Tagung 2014.
Angeblich wollen DGSF und SG „das politische Leid ihrer Mitglieder in der Jugendhilfe nicht anhören“. Das folgerst Du offenbar vorwiegend daraus, dass Du es als einzige Rednerin auf Deine Art fortlaufend in die Mitgliederversammlungen trägst. Mir scheint die Jugendhilfe im Verband stark repräsentiert und sehr gut sicht- und hörbar zu sein. Die Fachgruppe Kinder- und Jugendhilfe scheint mir eine der mitgliederstärksten im Verband, zahlreiche weitere Fachgruppen sind eng dran an Jugendhilfethemen, die Mehrzahl der jetzigen Vorstandsmitglieder hat einen biografischen Hintergrund in der Jugendhilfe, derzeit läuft eine Ausschreibung für eine jugendhilfepolitische ReferentIn.
Offenbarungspflicht für Parteimitgliedschaften? Ein ungewöhnlicher Stigmatisierungsversuch
Du problematisierst die „aktive CDU-Parteizugehörigkeit des jetzigen Vorsitzenden“ und schlägst künftig eine Offenbarungspflicht der Parteizugehörigkeiten von Vorstandskandidaten vor. Erlaube mir dazu mehrere Fragen: Bist Du bei der Wahl zur DAF-Vorsitzenden oder danach je öffentlich nach Deiner Zugehörigkeit gefragt worden? Hat man Wilhelm Rotthaus 2000 oder mich 2007 danach gefragt? (Mich nicht.) Welche Parteizugehörigkeit darf denn ein DGSF-Vorsitzender haben und welche nicht? Welche prognostische Bedeutung hat derzeit Deiner Meinung nach eine Parteizugehörigkeit für die praktische Arbeit eines Verbandsvorsitzenden? Sollte eine allgemeine Parteizugehörigkeitsoffenlegungspflicht für alle eingeführt werden, die in der DGSF eine Funktion übernehmen? Ich vermute, auch Du hast als Studentin den Labeling Approach und das Stigmatisierungskonzept kennengelernt. Warum betreibst du hier diesen in der systemischen Szene bislang unvertrauten, eigenartigen Stigmatisierungsversuch eines DGSF-Vorsitzenden?
Nach Dir nichts Nennenswertes? Die Nostalgie einer 68erin
Die Jüngeren bekommen es bei Dir faustdick ab. „Diese Generation der heute 35-50 jährigen … ist auf dem besten Weg, ihre Aufgabe zu vergeigen“. Das hat natürlich mit Dir und Deiner Generation zu tun. Denn „diese Generation hat sich lange im Windschatten meiner Generation (der 68iger) ausgeruht“.
Über diese Rhetorik der Alt-68er hat der jüngst verstorbene Alt-68er Freiburger Liedermacher Walter Mossmann in seinem Spottlied „Auch ich war in Italien“ schon 1977 sehr schön folgende Strophe getextet : „Was ist nach uns gekommen? Wahrlich nichts Nennenswertes! Nur in den Urlaubsländern, da lieber Freund, da gärt es“. Liebe Marie-Luise: wie soll denn eine solche Generation, die Du hier zu politischen Krüppeln erklärst, den von Dir empfohlenen Widerstandsgeist entfalten, solange „Ihr 68er“ ihnen immer noch den Windschatten bietet, in dem sie sich ausruhen können?
Das wird man doch noch sagen dürfen, oder? Zur populistischen Rhetorik deines Vortrags
Während Dein Hinweis auf die 68er und auf die Metaphern von „Widerstand“ eindeutig eher „links“ daherkommt, ähneln andere Deiner rethorischen Figuren eher denen des heutigen Rechtspopulismus: Die herrschenden Machteliten mit ihrer Hegemonie und ihren Bereicherungsinteressen behindern den Mut sich zu bekennen. Du selbst beschreibst Dich als Zensuropfer eines von den Machteliten dominierten Presseorgans (des „Kontexts“). Gegen „die da oben“ zu wettern, das kommt gut und macht Stimmung. Allerdings nur, solange man selbst keine Alternativen aufzeigen muss.
Widerstand allein ist kein politisches Programm
Anders als Du halte ich Widerstand für eine notwendige, aber für sich allein keineswegs hinreichend erfolgversprechende politische Strategie. Dein Vortrag hat über das Hinterfragen und Kritisieren und Sich-Nicht-Abspeisen-Lassen hinaus politisch nichts Hoffnungsvolles und Konkretes anzubieten: keine Zielrichtung, keine Programmatik, keine Vision darüber, wie eine anders und besser organisierte Jugendhilfe denn politisch aussehen und erreicht werden könnte. Du kritisierst die Bürokratie, die Sozialraumorientierung, die Sozialmanagerei. Aber was stattdessen? – über die Aufsuchende Familientherapie nach Marie-Luise Conen und Salvador Minuchins strukturelle Familientherapie hinaus?
Und hier kommt mein zentraler Kritikpunkt. Ich denke Du vertrittst eine politische Strategie der 1960er/1970er Jahre, die schon damals nicht viel bewirkt hat. Ihre eine Kernidee war „Die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen, indem man ihnen ihre Melodie vorsingt“ (Karl Marx), ihre andere „Es gib kein richtiges Leben im Falschen“ (Theodor Adorno). Der Fokus lag auf Ideologiekritik, auf Entlarvung. Die typische Forderungsrhetorik war „Weg mit …“. Man wusste sich selbst auf der guten und richtigen, die anderen auf der bösen und falschen Seite.
Mit der Ökologie und Friedensbewegung um 1980 kam ein anderes Politikverständnis auf, das m. E. auch zur Systemischen Therapie besser passt und zu einer möglichen politischen Wirksamkeit der DGSF. Man entwickelte über die Kritik an Kernkraft und Atomraketen hinaus anschauliche Positiv-Visionen einer ökologischen und friedfertigen Gesellschaft. Man sah nicht nur die Anderen, sondern sich selbst auch als Mitkonstrukteur der zu lösenden Probleme. Man wusste: „Es gibt nichts Gutes, es sei denn man tut es“ (Zitat von Erich Kästner, sinngemäß neu belebt in letzter Zeit von Harald Welzer). Man fokussierte auf erfolgversprechende Aktionen, weil man wusste: „Das Beklagen schlechter Zustände allein hat diese noch nie verändert“ (Zitat Andreas Bernstorff, ehemals Greenpeace, beim DGSF Mitgliedertag 2013).
Zusammenfassend: Warum ich Deine Kritik zumindest nutzlos finde
Ich vermisse in Deinem Vortrag eine über die Abwehr schlechter Entwicklungen hinausgehende, nicht lediglich defensiv-reaktive politische Haltung. Deine Rhetorik kränkt zahlreiche Menschen, nicht nur die ganzen „35-50 jährigen, die gerade alles vergeigen“, wertet sie ab und enthält kaum Angebote zur Kooperation. Dein Vortrag ist geeignet, Menschen und Gruppen in der DGSF zu ärgern – damit allerdings auch jene „anonymen Unterdrückten“ zu erfreuen, die sich freuen, dass Du jene Machteliten ärgerst. Dein politisches Strategie-Konzept scheint mir in den 1960ern/1970ern steckengeblieben und bietet aus meiner Sicht für die systemische Szene keine Perspektiven.
Ich hoffe, Du bist mit dieser klaren Resonanz zufrieden. Du hast Dir ja kritische Auseinandersetzung gewünscht. Ich bin zuversichtlich, dass wir uns dennoch freundlich auf Augenhöhe weiter begegnen werden, ohne „Konsensbrei“. Meine Kritik gilt Deiner Rhetorik und Strategie, nicht Deiner Person.
Mit trotz allem freundlichen Grüßen
Dein Jochen
Zum Vortrag von Marie-Luise Conen
http://www.context-conen.de/aktuelles/DGSF-2016-Vortrag-Jugendhilfetag-Koeln.pdf