Weitere Qualitätskriterien (AFT und SPFH)

Qualitätskriterien der DGSF zur Praxis der aufsuchenden systemisch-orientierten Erziehungshilfen in Familien: Aufsuchende Familientherapie und Sozialpädagogische Familienhilfe (AFT und SPFH)

Die Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie ist ein Fachverband mit rund 11.000 systemisch tätigen Einzelmitgliedern und Institutionen aus den Kontexten der Jugendhilfe, Sozialen Arbeit, dem Gesundheitswesen sowie aus Organisati-onsentwicklung, Supervision und Coaching. Ziel des Fachverbands ist es, systemische Exper-tise in fachlichen und fachpolitischen Kontexten zu fördern.

Aufsuchende Erziehungshilfen in Familien leisten einen zentralen Beitrag im Rahmen der Jugendhilfe in Deutschland. Sie sind bestrebt, die meist mehrfach massiv belasteten Familien in prekären Lebenslagen im Blick auf ihre unmittelbaren Bedarfe dahingehend zu unterstützen, dass den Kindern ein gutes Aufwachsen in ihren Familien gelingt. Das fachliche Handeln ist grundsätzlich – auch im Kinderschutz – geprägt von einem partizipativen, kooperativen und an den Ressourcen der Familienmitglieder orientierten Vorgehen.

Vielerorts bestehen erhebliche Diskrepanzen zwischen den hohen Erwartungen einerseits und dem Mangel an Ausstattung dieser Hilfen in Leistungsvolumen (z. B. bewilligte Stunden pro Hilfe) und in finanzieller Hinsicht (z. B. Höhe der Leistungsentgelte), so dass diese nicht oder nur eingeschränkt ihrer Aufgabe/Funktion nachkommen können. So ist u. a. der Anteil von Hilfen mit einem wöchentlichen Stundenumfang von weniger als 5 Stunden in den letzten Jahren deutlich angestiegen und die Aushandlungen von Leistung, Qualität und Entgelt finden häufig nicht auf Augenhöhe zwischen gleichberechtigten Verhandlungspartner*innen statt.

Auf Bundesebene hat der Gesetzgeber den verbindlichen Abschluss der Vereinbarungen zu Leistung, Qualität und Entgelten nicht geregelt, eine Vereinbarung ist gem. § 77 SGB VIII nur anzustreben. Auch kann, anders als bei den stationären Erziehungshilfen und Hilfen der Eingliederungs- und Altenhilfe, bei Dissens zwischen den Verhandlungspartner*innen nicht die Schiedsstelle angerufen werden. Auf der Landesebene gibt es in vielen Bundesländern keine landesweit geltenden Rahmenvereinbarungen im Bereich der aufsuchenden Hilfen zur Erziehung.

Gleichwohl ist Grundlage einer qualifizierten Leistungserbringung eine Finanzierung, die ein wirtschaftliches Arbeiten der Leistungserbringenden ermöglicht und dass der Aushandlungsprozess zu Leistung, Qualität und Vergütung partnerschaftlich und auf Augenhöhe zwischen der öffentlichen Jugendhilfe und der freien Jugendhilfe stattfindet.

Die verschiedensten Berufsgruppen sind in dem Handlungsfeld tätig und die Inhalte der Qualifizierungen sind nicht strukturell standardisiert. Diese hochgradige Heterogenität des Feldes geht einher mit einem überwiegenden Fehlen von Qualitätsstandards.

Mit dieser Positionierung will die DGSF zu einer notwendigen Etablierung bundeseinheitlicher Qualitätsstandards für die Aufsuchende Familientherapie (AFT) und der systemisch-orientierten sozialpädagogischen Familienhilfe (SPFH) beitragen.

1.) Qualitätskriterien einer aufsuchenden systemisch-orientierten Erziehungshilfe in Familien (AFT und SPFH) – Wissen, Haltung und Methodik sind unzertrennlich miteinander verbunden

Für die Haltung von Fachkräften gilt:

  • Die Autonomie der Adressat*innen wird respektiert.
  • Die Sichtweisen der adressierten jungen Menschen und ihrer Familien stehen im Mittelpunkt.
  • Die Fachkräfte zeigen eine Haltung, die geprägt ist von Neugier, Respekt vor der Autonomie, Wertschätzung, Hoffnung und professionellem ‚Nichtwissen‘ im Sinne eines „fragenden Verstehens“.
  • Aktuelle Familiendynamiken werden zirkulär im Zusammenhang von familialen Vermächtnissen, Botschaften und Aufträgen im Mehrgenerationenkontext betrachtet.
  • Die Fachkräfte respektieren die Lebensleistungen, würdigen die Belastungen der Familien und setzen an den vorhandenen Ressourcen der einzelnen Familienmitglieder an.
  • Die Fachkräfte haben kein dezidiertes normatives Verständnis von konkreten Lebenslagen der Familien. Sie sind sensibilisiert für gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die sich auf individuelles Leben von Familien auswirken.
  • Die Fachkräfte gehen achtsam, wohlwollend, jedoch auch herausfordernd und authentisch mit den Adressat*innen um.
  • Die Handlungsspielräume der Adressat*innen werden vergrößert.
  • Ein Problemverhalten wird als Ausdruck eines Lösungsverhaltens betrachtet.
  • Die Fachkräfte sehen sich als Teil des Lösungs- und auch des Problemsystems.
  • Die Fachkräfte zeichnen sich durch große Belastbarkeit vor allem im Umgang mit Fällen von Kindeswohlgefährdungen aus.
  • Die Fachkräfte haben und formulieren familienorientierte Positionen und treten dafür wahrnehmbar öffentlich ein. Sie positionieren sich deutlich gegen die Ausübung von Gewalt und Missbrauch.

Daraus folgt für das konkrete methodische Vorgehen:

  • Die Fachkräfte sind sensibel für die Schutzbedürfnisse der Familie, sie nutzen und respektieren die heimische Wohnung als deren sicheren Ort.
  • Es wird an den individuellen Lösungsideen und Kompetenzen der Familien angesetzt und die Selbstwirksamkeit gestärkt.
  • Fachkräfte sind in der Lage, in Zwangskontexten im Kinderschutz konstruktiv mit Widerständen von Familien umzugehen und handeln in Transparenz den Eltern und Kindern und Auftraggebenden gegenüber. Sie beteiligen sich mit ihren Kompetenzen an der Entwicklung von Schutzkonzepten.
  • Die Fachkräfte sind in der Lage, Beratungsprozesse und Hilfeleistungen flexibel und passgenau einzurichten sowie fortlaufend bedarfsorientiert weiter zu entwickeln.
  • Die Fachkräfte ermöglichen die Erforschung alternativer Sichtweisen und das Hinterfragen von problemaufrechterhaltenden Mustern.
  • Die Fachkräfte fordern die Adressat*innen zur Auseinandersetzung mit den sie umgebenden Systemen und deren Realitätsbezüge heraus und versuchen in gemeinsamer Reflexion einen Zugang zu deren Sichtweisen zu entwickeln.
  • Die Fachkräfte arbeiten in der Regel mit der Familie im Mehrpersonensetting „Eltern – Kinder“ und beziehen die sozialen Systeme der Familie mit ein.
  • Sie hinterfragen in Selbstreflexion, Supervision und Fortbildungen dauerhaft ihre eigenen fachlichen Gewissheiten, Glaubenssätze und Grenzen sowie biografischen Prägungen.
  • Kompensatorische Handlungsweisen können in bestimmten Fallkonstellationen hilfreich sein, sie sind in § 31 SGB VIII als Betreuung und Begleitung bei der Bewältigung von Alltagsproblemen mit aufgeführt. Aus systemischer Sicht bedürfen solche Hilfen jedoch eines Konzeptes der „guten Gründe“ und der Reflexion der Bedeutung der Übernahme von Handlungen durch das Helfer*innensystem auf dem Weg hin zu „einer Hilfe zur Selbsthilfe“.
  • Die jeweiligen kontextuellen Wechselwirkungen und Dynamiken von Verhalten werden berücksichtigt. Dabei werden auch relevante Dritte wie Kita, Schule, Kinder- und Jugendpsychiatrie mit einbezogen.
  • Die Fachkräfte distanzieren sich von einem vereinfachenden und fokussiert technizistischen, manualisierten Vorgehen mittels Checklisten und Rastern.

2.) Rahmenbedingungen von Aufsuchender Familientherapie (AFT)

Therapie in der Jugendhilfe ist ausgerichtet auf den Erziehungsprozess. Ihr Ziel ist nicht die Behandlung einer psychischen Krankheit, sondern die Förderung der Entwicklung des Kindes (oder Jugendlichen) durch Förderung der Eltern-Kind-Interaktion[1] (Eltern-Kind-Beziehung).

2.1       Qualifikation der Fachkräfte

Fachkräfte im Kontext einer AFT verfügen neben einem psychosozialen Hoch- bzw. Fachhochschulabschluss über eine mindestens 3-jährige familientherapeutische/systemische Weiterbildung an einem DGSF- bzw. SG-anerkannten Institut. Die Fachkräfte sind durch die DGSF/SG zum/zur Systemischen (Familien-)Therapeut*in zertifiziert.

2.2       Supervision

Regelmäßige, mindestens monatlich dreistündige Fall-Supervision pro Team. Teamsupervision ist darin nicht enthalten und muss bei Bedarf ggf. zusätzlich installiert und vergütet werden.

2.3       Vergütung

Die Vergütung erfolgt auf der Grundlage einer Leistungsvereinbarung und Qualitätsentwicklung, die ein durch Plausibilität begründetes und wirtschaftlich angemessenes Arbeiten der Träger der AFT ermöglicht, und die ein Handeln im Kontext von Kindeswohlgefährdungen berücksichtigt. Eine Finanzierung durch Netto-Fachleistungsstunden (nur direkte Face-to-Face-Tätigkeit mit Adressat*innen) ist ausgeschlossen.

Es gilt, dass alle mit der Leistung verknüpften Aufwendungen erstattet werden müssen und bei ambulanten Hilfen kein Trägeranteil vorgesehen ist.

2.4       Dokumentation und Evaluation

Für jeden Fall wird eine Prozessdokumentation und (einrichtungsinterne) Evaluation durchgeführt. Die Sicht der Familie wird verbindlich einbezogen.

2.5       Co-Arbeit

Die Aufsuchende Familientherapie (AFT) erfolgt in Co-Arbeit. Die Gespräche werden von zwei Familientherapeut*innen geführt.

Eine co-therapeutische Arbeitsweise ermöglicht das Reflecting-Team als eine der zentralen Methoden von AFT. Die Reflexionen des Co-Teams vor der Familie stellen, neben weiteren familientherapeutischen Methoden, die Grundlage für eine explizit veränderungsorientierte Arbeit an den bestehenden Problemlösungs- und Interaktionsmustern der Familie dar.

Die Co-Arbeit dient auch der Vermeidung von möglicher „Sogwirkung“ durch die Familie. Die kontinuierliche co-familientherapeutische Arbeit und deren Absicherung (Urlaub, Krankheit) erfordert, dass ein Familientherapeut*innenpaar in einem Arbeitsteam eingebunden ist, in dem mindestens drei Familientherapeut*innen tätig sind.

2.6       Gestaltung und Zeitrahmen der AFT

AFT ist in akuten Krisensituationen von Familien einzusetzen und läuft über einen Zeitraum von sechs Monaten bis zu maximal zwei Jahren.

Zum Setting von AFT gehören eine Mindestzahl von 26 Familientherapiegesprächen à mindestens 90 Minuten. Bei der AFT handelt es sich um eine Hilfeform, die vor allem anfänglich, aber auch in weiteren Krisen, einer höheren wöchentlichen Gesprächssequenz bedarf.

Eine Dauer der AFT von bis zu zwei Jahren ist vor allem dann erforderlich, wenn traumatische Lebenserfahrungen der Eltern in massiver/deutlicher Weise erhebliche Auswirkungen auf ihre alltägliche Erziehungsgestaltung haben. Dazu gehören u. a. langjährige sexuelle Gewalterfahrungen vor allem der Mütter, deren bestehende Problemlösungsmuster einer steten und kontinuierlichen Veränderungsunterstützung bedürfen.

Eine familientherapeutische Einheit umfasst eine Mindeststundenzahl pro Familie pro Woche von 5,5 Stunden pro Fachkraft. Sie schließt alle notwendigen personen- und nicht personenbezogenen Tätigkeiten wie z. B. Gespräche mit Beteiligten aus dem Umfeld der Familie, einschl. Herkunftsfamilie, Lehrkräfte, Kindergartenmitarbeiter*innen, Gesundheitswesen / Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Vor- und Nachbereitung, Dokumentation und Supervision ein.

2.7       Fahrzeiten

Fahrzeiten werden in angemessener Weise vergütet.

2.8       Institutionelle Verantwortung

Es ist notwendig, in der Trägerstruktur einen qualifizierten Leitungsanteil vorzusehen.

3.) Rahmenbedingungen für eine systemisch-orientierte Sozial-pädagogische Familienhilfe (SPFH)

3.1       Qualifikation der Fachkräfte

Fachkräfte im Kontext einer SPFH nach § 31 SGB VIII verfügen neben einem psychosozialen Hoch- bzw. Fachhochschulabschluss oder einer staatlichen Anerkennung als Erzieher*in/Heilpädagog*in über eine familientherapeutische/systemische Weiterbildung an einem DGSF- bzw. SG-anerkannten Institut. Die Fachkräfte sind durch die DGSF/SG zum/zur Systemischen Berater*in (2-jährig) oder Systemischen Therapeut*in (3-jährig) zertifiziert.

3.2       Supervision

Regelmäßige, mindestens monatlich dreistündige Fall-Supervision pro Team; Teamsupervision ist darin nicht enthalten und muss bei Bedarf ggf. zusätzlich installiert und vergütet werden.

3.3       Vergütung

Die Vergütung erfolgt auf der Grundlage einer Leistungsvereinbarung und Qualitätsentwicklung, die ein durch Plausibilität begründetes und wirtschaftlich angemessenes Arbeiten der Träger der SPFH ermöglicht, und die ein Handeln im Kontext von Kindeswohlgefährdungen berücksichtigt. Eine Finanzierung durch Netto-Fachleistungsstunden (nur direkte Face-to-Face-Tätigkeit mit Adressat*innen) ist ausgeschlossen.

Es gilt, dass alle mit der Leistung verknüpften Aufwendungen erstattet werden müssen und bei ambulanten Hilfen kein Trägeranteil vorgesehen ist.

3.4       Dokumentation und Evaluation

Für jeden Fall wird eine Prozessdokumentation und Evaluation durchgeführt. Die Sicht der Familie wird verbindlich einbezogen.

3.5       Dauer

Eine Sozialpädagogische Familienhilfe läuft in der Regel in einem Zeitraum von sechs Monaten bis zu über zwei Jahren Dauer hinaus.

3.6       Fahrzeiten und Dokumentationszeiten

Fahrzeiten und Dokumentationszeiten werden in angemessener Weise zusätzlich finanziert.

3.7       Mindeststundenzahl

SPFH ist mit mindestens 6 Bruttofachleistungsstunden pro Woche pro Familie durchzuführen. Die Fachleistungsstundenzahl ist bedarfsgerecht zu gestalten und sollte auch als monatliches/viertel-/halbjährliches Stundenkontingent abrechenbar sein.

Dies schließt ein: alle notwendigen personen- und nicht personenbezogenen Tätigkeiten wie z. B. Gespräche mit Beteiligten aus dem Umfeld der Familie, einschl. Herkunftsfamilie, Lehrer*innen, Kindergartenmitarbeiter*innen, Gesundheitswesen / Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Vor- und Nachbereitung und Supervision.

3.8       Institutionelle Verantwortung

Es ist notwendig, in der Trägerstruktur einen qualifizierten Leitungsanteil vorzusehen.

Beschlossen von der DGSF-Mitgliederversammlung am 4. Oktober 2024 in Köln.

Fußnoten

[1] Die konzeptuellen Grundlagen systemischen Handelns fußen auf einer systemischen Weiterbildung mit theoretischen und methodischen Grundlagen, die die Haltung der Fachkräfte mit prägen.

[2] Prof. Dr. Dr. h.c. Reinhard Wiesner: Psychotherapie im Kinder- und Jugendhilferecht. Gutachten im Auftrag der Psychotherapeutenkammer Berlin, Berlin, 07. Juni 2005
https://www.psychotherapeutenkammer-berlin.de/system/files/document/Gutachten_Prof_Wiesner.pdf